Sonntag, 8. Juni 2008

Klinische kontra kulturelle Hypnose


Wenn wir die Krise, in der wir heute stecken, an der Wurzel packen wollen, müssen wir aus der Trance erwachen und einen bewussten Kontakt mit unserer inneren Weisheit herstellen. Was wir brauchen, ist eine kulturelle Enthypnotisierung. Aber wenngleich es relativ einfach ist, aus einer gewöhnlichen Hypnose aufzuwachen - der Hypnotiseur zählt bis drei, schnippt mit den Fingern und befiehlt der Person aufzuwachen-, ist es bei weitem nicht so leicht, aus unserer kulturellen Hypnose aufzuwachen.
Zunächst einmal gibt es keinen Hypnotiseur, der uns aufwecken könnte, zumal ein Grossteil unser Konditionierungen schon vor langer Zeit geschah, zum Teil noch bevor wir sprechen oder uns erinnern konnten. Ausserdem wurde uns die Hypnose durch viele verschiedene Medien vermittelt, durch Eltern, Lehrer, Freunde und Unbekannte, durch Bücher, Zeitschriften, Radio, Fernsehen, Filme und Werbung. Sie ist ein Teil des Gefüges unserer Gesellschaft, und es gibt keine bestimmte Person, die dafür verantwortlich ist.
Ein weiterer wichtiger Unterschied zwischen der klinischen und der kulturellen Hypnose ist die tiefe der Konditionierung.
In seinem Buch "Hellwach und bewusst leben" zeigt der Psychologe Charles Tart, dass die gewöhnliche Hypnose auf einer freiwillig eingegangenen und zeitlich begrenzten Beziehung zwischen zwei mündigen Erwachsenen basiert. Die Macht, die dem Hypnotiseur übertragen wird, ist normalerweise auf ein oder zwei Stunden und durch verschiedene ethische Vorschriften begrenzt, und die Versuchsperson kann zu Recht erwarten, nicht eingeschüchtert zu werden, bedroht oder verletzt zu werden. Funktioniert die Hypnose nicht, wird der Versuchsperson nicht die Schuld dafür gegeben. Und obwohl kurzfristig eine tief gehende Änderung des Erlebens stattfinden kann, erwartet die Versuchsperson keine grundlegende oder langfristige Veränderung ihrer Persönlichkeit oder "Realität" - es sei denn, sie möchte eine unerwünschte Verhaltensweise ändern.
Tart zufolge unterscheidet sich diese Situation deutlich von der kulturellen Hypnose, denn wir bewegen uns nicht freiwillig in unsere kulturelle"Konsensus-Trance" - sie beginnt bereits bei der Geburt und ohne unser bewusstes Einverständnis. die gesamte Autorität wird auf die Eltern und andere "Hypnotiseure" übertragen, die zunächst als allwissend und allmächtig angesehen werden. Ausserdem beschränkt sich die Induktion nicht auf kurze Sitzungen, sondern findet über Jahrte hinweg permanent statt.
Klinische Therapeuten würden es als äusserst verwerflich betrachten, Gewalt anzuwenden, aber genau das tun unsre kulturellen Hypnotiseure häufig, sei es durch einen Klaps auf die Hand oder eine Tracht Prügel für "schlechtes Benehmen". Oder sie wenden subtilere, aber machtvollere emotionale Druckmittel an, wie: "Ich liebe dich nur, wenn du so denkst und dich so verhältst, wie ich es dir sage."
Schliesslich-und das ist der entscheidende Unterschied- soll die Konditionierung permanent sein, und sie soll eine anhaltende Wirkung auf unsere Persönlichkeit und darauf haben, wie wir die Welt beurteilen.
Darum bedarf es weit mehr als nur eins Fingerschnippens, um aus unserer kulturellen Trance aufzuwachen. Immerhin müssen wir eine lebenslange, äusserst machtvolle Induktion überwinden.
In mancher Hinsicht sieht es so aus, als ob wir hoffnungslos feststecken, und tatsächlich trifft dies meistens zu. Aber es gibt auch Zeiten, in den die Natur mit den Fingern zu schnippen scheint. Dann wachen wir einen Augenblick lang auf und sehen die Dinge in einem anderen Licht - und bekommen einen Geschmack von dem, was vor uns liegt.

Zitiert aus "Im Zeitstrudel" von Peter Russell